Softer Lockdown – Eine deutsche Erfindung verbreitet sich in Europa

Softer Lockdown – Eine deutsche Erfindung verbreitet sich in Europa

Daniel Abbruzzese

Vor anderthalb Wochen wurde der viel befürchtete Lockdown in Deutschland gestartet, oder besser: eine weiche Version des Lockdowns. Die Einschränkungen sollen bis Ende November in Kraft bleiben, könnten aber verlängert werden. Diese Verlängerung sei vermeidbar, hat Angela Merkel versichert. Doch so unwahrscheinlich ist diese Entwicklung nicht. Die Statistik der Neuinfektionen spricht dafür. Wie oft spricht aber die Wirklichkeit eine viel komplexere Sprache.

Vom Wellenbrecher zum totalen Lockdown.

Bereits vor einigen Wochen hatten mehrere Politiker vor einem rasanten Anstieg der Fallzahlen gewarnt und einen sogenannten „Wellenbrecher-Lockdown“ als notwendige Lösung angesprochen, um entspannt in die Weihnachtszeit gehen zu können. Seit die neuen Einschränkungen in Kraft getreten sind, sprechen die Medien von einem Teil-Lockdown, um ihn von der Ausgangsperre vom vergangenen Frühling zu unterscheiden. Von den damals geltenden Regeln weicht aber der aktuelle Lockdown nur in geringem Maße ab. Bars und Restaurants mussten erneut schließen, sowie Theater, Museen, Kinos und Fitnessstudios. Offen bleiben der Einzelhandel sowie das Sozialleben, wenn auch die Kontakte auf ein Minimum reduziert werden sollen.

Es wird gerne behauptet, der italienische Premierminister Conte habe sich ein Beispiel an Deutschland genommen. An der Umsetzung der Regeln lässt sich jedenfalls die Meisterhand einer Regierung erkennen, die imstande war, die ganze Bevölkerung zwei Monate lang einzusperren, um ihr dann eine plötzliche Rückkehr zur Normalität einzuräumen, unter der Bedrohung, immer wieder im Alltagsleben des Einzelnen zu intervenieren, falls nötig.

Die Geschichte wiederholt sich, erst einmal als Farce, dann als Unsinn.

Die Geschehnisse der letzten Wochen wiederholen sich in derselben Form und im gleichen Tempo in unterschiedlichen Ländern. Mitte September werden die Corona-Fallzahlen erneut aktuell, die Infektionskurve steigt dann dramatisch an (daran Schuld sind freilich diejenigen, die sich nicht an die Regeln gehalten haben, erfahren wir zumindest aus den Medien). Während die Zeitungen Alarm schlagen, zeigen sich die wichtigsten Virologen noch entspannt. Es folgen ein paar Politiker aus den hinteren Reihen, die zunächst Einschränkungen vorschlagen, um einen Lockdown zu vermeiden, dann nach wenigen Tagen den Lockdown als einzige Lösung sehen. Letztendlich unterschreiben mehrere Wissenschaftler einen offenen Brief, in dem sie auf drastische und dringende Maßnahmen bestehen. Die endgültige Rolle spielt aber der Premierminister, der in einer Liveübertragung das verkündet, worauf sich schon alle vorbereitet hatten. Aus der obersten Galerie ertönt die Zustimmung der angesehensten Virologen.

In den vergangenen Wochen ist Angela Merkel regelmäßig vor den Kameras erschienen. Ihre Rolle ist immer jene der etwas älteren Frau, welcher eine gewisse Autorität zugesprochen wird, und die gerufen wird, einen Streit unter den angetrunkenen Kunden einer Kneipe zu schlichten. Sie muss in die finsteren Gesichter blicken und was Eigenes dazu einbringen: Ihre Physikkenntnisse, die sie aus ihren Studienzeit aufbewahrt hat, vor allem aber ihren mütterlich bekümmerten Tonfall, in dem sie zu außerordentlichen Opfern ermahnt, um spätestens zu Weihnachten zum größeren Wohl zu gelangen. Dabei muss sie so tun, als würden sämtliche aufgeregte Erklärungen zusammen mit der momentanen Trunkenheit verschwinden: Der Minister Scholz, der ein Wirtschaftswachstum bis zu 4,4% fürs kommende Jahr prognostiziert, der SPD-Abgeordneter Karl Lauterbach, der sich aufgrund der dramatischen Lage entschlossen für eine Aufhebung der Unverletzlichkeit der Wohnung ausspricht, oder der Staatsvirologe Christian Drosten, der es für nötig hält, die Grundsätze der Rechtsstaates für die kommenden Jahre umzuwerfen, damit die Infektionsrate unter strenger Kontrolle gebracht werden kann.

Angela Merkel hofft nur, ihre Stimme wird stark genug sein, um die Verfassungen der auf der Bühne sonst Anwesenden zu besänftigen. Überhaupt müssen aber ihre Worte diejenigen beruhigen, die in ihrem Alltag mit diesen harten Maßnahmen zu tun haben werden. Der Bevölkerung, in der sich ein steigendes Misstrauen hineingeschlichen hat, verspricht die Kanzlerin einen milden Dezember, der an die Normalität einer vergangenen Zeit erinnern dürfte. Dabei bereitet sie sich auf ihre Rückkehr zum Privatleben, spätestens nach den nächsten Bundestagswahlen, vor.

Im Hinblick auf ihre sanft herabsteigende Laufbahn, versucht Angela Merkel die lineare Tendenz der Geschehnisse zu ignorieren. Geradlinig und unaufhaltsam schreitet das Virus fort und steckt jedes Individuum an, das sich auf einer Kontaktkette befindet, so dass es im Dezember mit über 70.000 Erkrankungen pro Tag zu rechnen sei. Ungeachtet des soften Lockdowns soll die Wirtschaft weiterhin geradlinig wachsen. Gerade ist auch die Linie, die Kranke von Gesunden unterscheidet, beziehungsweise jene, nach der Prioritäten in Krankenhäusern gesetzt werden. Noch ein Stückchen tiefer verläuft die Linie zwischen Grund- und Sekundärbedürfnissen, beziehungsweise die zwischen lebenswichtigen und nicht lebenswichtigen Geschäften. Noch grundlegender ist aber die Linie, die ein Teil der Gesellschaft vom anderen abgrenzt: Auf der einen Seite diejenigen, die die Notwendigkeit der Maßnahmen verstanden haben, auf der anderen die, die sich im Internet informieren und glauben, die Erde sei eine Scheibe.

Die Tiefe der realen Welt

Seit Anfang Oktober sind die Einschränkungen regelmäßig verschärft worden, meistens infolge eines Regierungsbeschlusses oder der Anordnungen von Landesministerien. Doch immer häufiger erklären die Verwaltungsgerichte die Rechtswidrigkeit der eingeführten Regeln. Zunächst lässt sich deren Notwendigkeit empirisch nicht belegen – es gibt also keine Evidenz, dass der Infektionsanstieg auf das Nachtleben zurückzuführen ist. Andererseits könnten sich bestimmte Gesetze, unter anderem das Beherbergungsverbot – als verfassungswidrig darstellen. Die Landtage müssen gerade hart arbeiten, um neue rechtliche Grundlagen zu schmieden, damit nicht alle Einsprüche einzelner Bürger in einer allgemeinen Aufhebung aller Strafmaßnahmen enden. Nulla poena sine lege, keine Strafe ohne Gesetz, erweist sich schlussendlich als steinernes Prinzip, viel stärker als die Kontaktverfolgung, die von der Bundesregierung als Grundlage für die Schließung vieler kommerzieller sowie aller kulturellen Einrichtungen angegeben wurde.

Trotz des juristischen Widerstands erlassen die lokalen Behörde weiterhin Verordnungen, als wären sie von einer Zwangsneurose erfasst. Auf einmal verordnet zum Beispiel die Gesundheitssenatorin der Hauptstadt, nicht dringende medizinische Eingriffe sollen verschoben werden, für den Fall, dass die Intensivbetten in der nächsten Zukunft knapp werden. Doch wenn die seit dem 2. November geltenden Einschränkungen dafür gedacht waren, die Infektionskurve auszubremsen, warum sollte es demnächst zu Engpässen in den Intensivstationen kommen? Dementsprechend dürfte man sich auch fragen, ob die AHA-Regeln nicht ausreichend gewesen sind, um die Pandemie einzudämmen, und die Antwort darauf wäre, dass sich nicht genug Leute daran gehalten haben, denn schuld sind immer die Anderen. Da schließt sich der Kreis und keine Widerrede wird geduldet – das lernen wie gerade aus den Entwicklungen in der internationalen Politik: wer am lautesten schreit hat sowieso recht.

Wie lässt sich aber die Dringlichkeit eines medizinischen Falls feststellen? Seit Monaten kursiert die Frage unter Fachleuten, die sich um die Gruppierung „Ärzte für Aufklärung“ versammeln. Sie bezweifeln, dass 750.000 Infektionen und knapp 12.000 Sterbefälle ausreichend wären, um das Covid-19 zur Pandemie zu erklären. Zudem kritisieren sie die Rechtsmäßigkeit und die Logik, die hinter den Maßnahmen stehen, und warnen vor den katastrophalen Folgen dieser Einschränkungen, sowohl aus psychologischer als auch aus medizinischer Sicht, vor allem für chronisch-onkologische Patienten. Allerdings zerschellt sich jeder Vorschlag dieser Gruppierung (wie zum Beispiel die Bildung eines Untersuchungsausschusses) auf dem Wellenbrecher der Verschwörungstheorien. Denn der Tonfall dieser Fachleute unterscheidet sich nicht wesentlich von jenen der Talkshow-Wissenschaftler; andererseits steckt in jeder Infragestellung der Autorität die Gefahr einer irrationalen Abdrift. Es sollte also nicht wundern, dass die AfD sich die Ideen der aufklärerischen Ärzte zu eigen macht und sich seit Monaten bemüht, einen Untersuchungsausschuss ins Leben zu rufen.

Währenddessen wurde ein paar hundert Kilometer nördlich von der dänischen Grenze eine Virusmutation bei zwölf Patienten festgestellt. Dass diese genetische Veränderung wahrscheinlich von Tieren übertragen wurde, ist ein Grund genug, 15 Millionen in Nordjütland gezüchtete Nerze abzuschlachten. Statistisch lässt sich gegen diese Entscheidung nichts einwenden und die Infektionsrate hat momentan den Vorrang vor jeglicher ethischen Überlegung.

Nach ethischen Fragen muss man halt woanders suchen. So befasst sich die Ethikkommission des Bundestages seit Wochen mit den Gruppen von Menschen, die als erste geimpft werden sollen, wenn ein Impfstoff auf den Markt kommen wird.

Schaut man ein paar gerade Linien nach unten, weiß noch niemand, welche Folgen die aktuellen Einschränkungen auf 83 Millionen Einwohner haben werden. Wir können aber entspannt bleiben, denn die Unternehmen, die infolge des soften Lockdowns schließen mussten, dürfen mit einer Erstattung von 75% Prozent ihrer normalen Einnahmen rechnen. Mit ethischen, psychologischen, soziologischen Fragen – also mit nicht lebenswichtigen Fragen – werden sich die Forscher der Universitätskliniken beschäftigen; ihnen wird es vielleicht auch gelingen, in den Statistiken einen Platz für das beklemmende Gefühl zu finden, was die aktuellen Nachrichten in den Einzelnen hervorrufen. Es sei denn, dies zählt nicht zu den Aufgaben von einer Wissenschaft, die nur einen äußerst geringen Teil der Phänomene im Universum vollständig erklären kann.

[Diese Kolumne ist eine verarbeitete Übersetzung des am 09.11.2020 auf www.gliscomunicati.it erschienenen Textes „Lockdown soft: un’invenzione che l’Italia ha importato dall’estero“, https://www.gliscomunicati.it/2020/11/09/lockdown-soft-uninvenzione-che-litalia-ha-importato-dallestero/?fbclid=IwAR2X8phy2UdZt-mZmxuTqt9skonOqL9WpXu6a7UMFx9TYnOFgjA8Fjs2L58 ]

L’editoriale è pubblicato sul blog dell’autore: https://finisterraeberlin.wordpress.com/2020/11/13/softer-lockdown-eine-deutsche-erfindung-verbreitet-sich-in-europa/?fbclid=IwAR1hAbiQvNTWZqUGZFgC6i_6lSYiVf_hYll1ot7FoTHXd3xBHSMAnN7ECT0

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